Leitbachendiskussion

Gründe für die starke Vermehrung des Schwarzwildes gibt es viele. Daher spricht man besser von einem Ursachenkomplex. Der Versuch einzelne Ursachen im Vergleich zu andern zu bewerten, ist im Hinblick auf die Behebung der Ursachen des Populationsanstiegs nur bedingt hilfreich. Allzu häufig resultieren daraus gegenseitige Schuldzuweisungen, ohne dass die Frage beantwortet wird, welchen Beitrag die im Schwarzwildmanagement beteiligten Akteure selbst und unmittelbar zur Problemlösung leisten können.
Beispielsweise können Jäger, Landwirte oder auch Waldbesitzer die möglicherweise klimabedingt häufigere Baummast in unseren Wäldern nicht beeinflussen. Es gibt aber Ursachen, die unmittelbar angegangen werden können. Im Gesamtkomplex derjenigen Ursachen, die von den Akteuren beeinflusst werden können, gilt die Zurückhaltung bei der Bachenbejagung seit langem als einer der wichtigeren Gründe. Wie kann das sein?

Aufbau der Schwarzwildbestände

Ein Blick in die wechselvolle, jüngere Geschichte zwischen Mensch und Wildschwein macht dies verständlich. Die Einstellung der teilweise erbarmungslosen Verfolgung des Schwarzwildes als "Schadwild" in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg ist zweifellos einer der Gründe für das Ansteigen der Schwarzwildbestände.
Es ging nämlich vor allen um den Aufbau der Schwarzwildbestände. In dieser Zeit handhabte man die Bachenbejagung sehr restriktiv, um vor allem auch "reife Keiler" erbeuten zu können.
Dieser neue Ansatz der Schwarzwildbejagung fand u.a. seinen Ausfluss im sogenannten "Lüneburger Modell", an dessen Entwicklung der zwischen 1967-1988 im Landkreis Lüneburg amtierende Kreisjägermeister, Norbert Teuwsen, maßgeblich beteiligt war (Teuwsen, 1977; vgl. auch Stahl, 1982).
Die Anfang der 1970er Jahre entwickelten "Richtlinien zur Schwarzwildbejagung" wurden in mehr oder weniger abgewandelter Form zu "der" Leitlinie für die Schwarzwildbewirtschaftung in vielen Regionen Deutschlands und in angrenzenden deutschsprachigen Ländern.

"Wir jagen auch nach dem Lüneburger Modell, nur anders…"

Im Kern sieht das Lüneburger Modell einen höchstmöglichen Abschuss von Frischlingen vor, damit bei gleichzeitiger, angemessener jagdlicher Zurückhaltung in der mittleren Altersklasse (Überläufer und jüngere erwachsene Wildschweine) ausreichend viele Sauen, besonders Keiler, in die "Reifeklasse" hineinwachsen können. Die Formulierungen aus dem "Lüneburger Modell" sind sicherlich noch vielen Jägern im Kopf:
  • "Stücke über 50 Kilo aufgebrochen sind zu schonen."
  • "Aus der Rotte ist zunächst immer das schwächste Stück zu erlegen."
  • "Frischlinge sind früh und scharf zu bejagen. Sobald das Streifenmuster verschwindet, sollte mit der Bejagung begonnen werden."
  • "Ein Stamm erfahrener alter Bachen ist zu erhalten."
FrischlingeZoombild vorhanden

© Photohunter-Fotolia.com

An diesen und weiteren "Grundsätzen" orientierte sich fortan vielerorts die Schwarzwildbejagung. Obwohl diese Empfehlungen des "Lüneburger Modells" landeskulturell angepasste Schwarzwildbestände mit artgerechten Alters- und Geschlechteraufbau zum Ziel hatten, sind die Schwarzwildbestände allerorten weiter aus dem Ruder gelaufen.
Es kam selten zu einer verbindlichen und konsequenten Umsetzung aller "Empfehlungen". Viele Jäger entlehnten sich nur die Punkte der Empfehlungen, die sie in ihrer Region für sinnvoll und praktikabel hielten. Vor allem in Neubesiedlungsgebieten waren die meisten Punkte geeignet, um den Schwarzwildbestand aufzubauen. So jagte man vielerorts nach den Grundsätzen des "Lüneburger Modells" nur "halt doch ein bisschen anders". Und dort, wo Schwarzwild in immer höherer Dichte vorkam, wurde versäumt, es an neue wildbiologische Erkenntnisse und die Entwicklung der Schwarzwildbestände anzupassen.
Grundsätzlich ist fraglich, ob solch ein Bejagungsmodell überhaupt sinnvoll umsetzbar ist. Viele wildbiologisch notwenigen Eingangsgrößen fehlen. Niemand kennt die soziale Zusammensetzung der Schwarzwildpopulation. Niemand weiß beispielsweise, wie sich das Geschlechterverhältnis der geborenen Frischlinge im jeweiligen Geburtsjahr darstellt.
Gerade in Regionen mit geringer Populationsdichte ist die angestrebte Höhe der Abschöpfung des Zuwachses in der Frischlingsklasse in der Praxis äußerst schwer umzusetzen. Und wie soll trotz dieser "Unbekannten" durch die Bejagung eine "richtige Sozialstruktur" eingestellt werden?

Die "richtige" Sozialstruktur

Rotte im SchneeZoombild vorhanden

© byrdyak-Fotolia.com

In die Zeit der 1970er und 1980er Jahre fallen auch Erkenntnisse, die Heinz Meynhardt durch den Kontakt zu "seinen" futterzahmen Wildschweinen in Ostdeutschland gewonnen hat. Er hat seine Erfahrungen und Beobachtungen zum Familienleben des Schwarzwildes vielfach populärwissenschaftlich publiziert (z.B. Meynhardt, 1978) und so aus Sicht vieler Jäger Entscheidendes zur "richtigen Behandlung" der Wildart beigetragen.
Vor allem zum Aufbau und der Struktur von Rotten- und Familienverbänden hat sich der in Jägerkreisen durch Filme und Vorträge sehr bekannte Meynhardt geäußert. Dabei betonte er auch die Bedeutung der "Leitbache".
Sowohl in die jagdliche Ausbildung wie auch in Schwarzwildbejagungsmodellen fanden seine Ausführungen zur sozialen Zusammensetzung der Rotte intensiv Eingang. Für viele Jäger bestand fortan das Ziel darin, Schwarzwild so zu bejagen, dass sich eine "richtige Rotten- und Populationsstruktur" einstellt. Durch die "richtige" soziale Gliederung wollte man die Schwarzwildbestände nach jagdlichen Gesichtspunkten steuern.
Die Schwarzwildbestände sollten "strukturgerecht" bejagt werden, wobei die hegerischen Zielsetzungen (Keilerhege und Produktivität der Schwarzwildbestände) im Vordergrund standen (vgl. u.a. Snethlage, 1957; Meynhardt, 1985; Briedermann, 1990).
Die Schonung von erwachsenen Bachen und mittelalten Wildschweinen standen lange Jahre im Mittelpunkt des Schwarzwildmanagements. Das jagdliche Streben nach der "richtigen" Sozialstruktur in den Schwarzwildbeständen begünstigte daher den Populationsanstieg und die Ausbreitung des Schwarzwildes. So sind Wildschweine zwischenzeitlich auch in solchen Regionen, in denen Wildschweine lange Zeit nur sehr sporadisch vorkamen, zur attraktiven Jagdbeute geworden.

Aber was ist nun die "richtige" Sozialstruktur?

RottenverbandZoombild vorhanden

© zolastro-Fotolia.com

Neuere wildbiologische Untersuchungen zeigen, dass die sozialen Strukturen von Wildschweinrotten bei weitem nicht so "fixiert" sind, wie dies oftmals angenommen wird (Keuling, 2009).
Der Lebensraum, die Nahrungsverfügbarkeit, die Jahreszeit, das Auftreten von Fressfeinden und weitere Aspekte bestimmen neben der Bejagung die verschiedenen Verhaltensmuster des Schwarzwildes. Daher sind auch Änderungen in der Rottenstruktur, die mit temporären und finalen Rottenteilungen einhergehen können, nichts Ungewöhnliches oder Unnatürliches, sondern normale Verhaltensmuster beim Wildschwein, die Ausdruck der großen öko-ethologischen Plastizität dieser Wildtierart sind.
Änderungen in der sozialen Zusammensetzung der Rotten hängen im Wesentlichen von den Altersklassen, der Reproduktion und dem saisonalem Nahrungsangebot ab. Die Sozialstruktur einer Schwarzwildrotte oder einer -population ist demnach keinesfalls ein "statisches Gebilde", das es mit einem jagdlichen Management zu "fixieren" gilt.

Offen für Erkenntnisse und neue Ansätze

Frischlinge auf NahrungssucheZoombild vorhanden

© simank-Fotolia.com

Das Ziel einer anspruchsvollen, strukturierten Bejagung zum gesteuerten Aufbau von Sozialstrukturen darf aufgrund der realen Bestandsentwicklung des Schwarzwildes als gescheitert angesehen werden. Denn damit sollte vor allem auch die Wildschadenssituation im Zaum gehalten werden.
Dieser Ansatz wurde und wird (leider) immer noch in der Jagdpraxis als Argument für den Aufbau oder das Halten hoher Schwarzwildbestände missbraucht. Die Umsetzung des lange verfolgten Hegeziels "starker Keiler" hat sich in unserer Kulturlandschaft nicht bewährt.
Auch die der sog. "Leitbache" vielfach zugesprochenen Fähigkeiten oder Funktionen für den Rottenverband lassen sich nach derzeitigem Wissensstand nicht halten.
Die Schwarzwildbewirtschaftung heute muss sich daran orientieren, die Schwarzwildpopulation einzuregulieren und auf einem akzeptablen Niveau zu halten.
Gelingt das der Jägerschaft im Zusammenspiel mit allen anderen Beteiligten nicht, werden ihr möglicherweise Teile unserer Gesellschaft die Fähigkeit absprechen, einen Wildtierbestand regulieren zu können.
Die nüchterne wissenschaftliche Analyse, aber auch das Hinterfragen des bisherigen jagdpraktischen Handelns ist notwendig. Dies gelingt nur dem, der "offen" ist für wissenschaftliche Erkenntnisse und neue Ansätze.

Leitbachendiskussion verunsichert Jäger

Überläufer rennt über WieseZoombild vorhanden

© natureimmortal-Fotolia.com

Nach wie vor erscheint zum Thema Schwarzwildbejagung kaum ein Beitrag in der Jagdpresse oder jagdlichen Fachliteratur, ohne dass darin ein Appell zur Schonung der Leitbache zu finden wäre. Es wird mit einem Zerfall der Sozialstruktur der Rotte argumentiert. In dessen Folge käme es zur unkoordinierten Reproduktion vor allem der Frischlingsbachen und letztlich auch zu einem Anstieg der Wildschäden, weil "führungslose Frischlingsrotten marodierend über Land zögen" (vgl. z.B. Happ, 2003, 2007; Weikert, 2015).
Es fällt auf, dass bei jedem anderen Schalenwildbestand Einigkeit besteht, dass dieser durch Abschöpfen eines Großteils des Nachwuchses und durch zusätzliche jagdliche Eingriffe in den weiblichen Bestand zu regulieren ist. Nur bei den sich im Vergleich zu allen andern Schalenwildarten rasant vermehrenden Wildschweinen mit jährlichen Zuwachsprozenten von bis zu 300% wird teilweise konstatiert, dass die Nachteile beim Abschuss von Bachen hinsichtlich Zuwachs und Wildschäden überwögen.
Wenn auf dieser Grundlage die Forderung nach einer Intensivierung der Schwarzwildbejagung mit der generellen Einschränkung verknüpft wird, Bachen und insbesondere sog. "Leitbachen" zu schonen, verunsichert dies viele Jäger. Die daraus resultierende Zurückhaltung bei der Bejagung der Bachen insgesamt lässt sich an vielen Jagdstreckendaten ablesen.
Erklärungsmodelle zur Funktion der Leitbache im Rottenverband und darauf aufbauende Bejagungsrichtlinien, berücksichtigen nicht, dass die soziale Struktur einer Rotte keinesfalls statisch ist und selbst Verluste einzelner Rottenmitglieder ohne Jagdeinfluss, beispielsweise durch Fressfeinde, Verkehr oder Krankheiten, auftreten können.
In diesem Zusammenhang werden aber auch andere Schlussfolgerungen gezogen: "Trotz intensiver Bemühungen sieht es so aus, als ob der Schwarzwildbestand in zahlreichen Gebieten unseres Landes nicht in den Griff zu bekommen ist. Abgesehen von einer noch immer regelmäßig zu niedrigen Zahl erlegter Frischlinge, wird auch der anspruchsvolle Bachenabschuss sehr zurückhaltend getätigt." (Pfannenstiel, 2005)

Bedeutung der "Leitbache" und Nachteile in der Bejagbarkeit von Rotten

Bedeutung der "Leitbache"

BacheZoombild vorhanden

© Wolfgang Kruck-Fotolia.com

Aus aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen ergibt sich, dass die Bedeutung der "Leitbache" (oder neutraler formuliert: die die Rotte oder den Rottenverband "führende Bache"), also der meist ältesten reproduktiven Bache, in mehrfacher Hinsicht überschätzt wird.
Zum einen haben solche Bachen eine wirklich "führende" Funktion nur in Großrotten oder Rottenverbänden. Aber sowohl bei hohen wie bei niedrigen Populationsdichten (vgl. u.a. sog. "Ausbreitungsgebiete") kommen überwiegend Rotten mit ein oder zwei Bachen vor (vgl. z.B. Keuling & Stier, 2009).
Zum anderen findet sich bei "Ausfall" einer die Rotte führenden Bache immer eine neue. Somit bricht keinesfalls "die komplexe Sozialstruktur beim Schwarzwild zusammen". Dies heißt nicht, dass ein altes, entsprechend erfahrenes Tier z.B. im Hinblick auf die Erkennung von Gefahren, für den Gruppenzusammenhalt biologisch nicht wichtig ist.

Nachteile in der Bejagbarkeit von Rotten

Diese sozialen Funktionen der "Leitbachen" sind bei einer beabsichtigten Bestandsreduktion jedoch keine hinreichende Begründung für jagdliche Einschränkungen. Gerade für die Bejagbarkeit kann es nachteilig sein, wenn Rotten von alten "Erfahrungsträgerinnen" (Völk, 2014) geführt werden. Was in vom Menschen kaum oder nicht beeinflussten Populationen sinnvolle natürliche Anpassungsmechanismen des Wildschweines darstellen (z.B. Fressfeinde), kann in der Kulturlandschaft die Populationsregulation maßgeblich erschweren.
Denn die Langlebigkeit und damit verbunden der Erwerb von immer mehr Erfahrung macht die Bejagbarkeit bachengeführter Rotten zweifelsohne schwieriger. Darüber berichten auch immer wieder jagdliche Praktiker.

Und Wildschweinforscher geben zu bedenken (Keuling, 2013): "Leitbachen zu erlegen macht nur in besonderen Fällen Sinn, ist aber auch nicht so tragisch, wie immer behauptet. Gegebenenfalls kann auch gezielte Bejagung älterer Bachen erfolgen, um den "Kopf" der Rotte zu nehmen. Die erfahrenen Bachen haben gelernt Bejagungen auszuweichen. Bewegungsjagden werden effektiver, wenn weniger Erfahrung in der Population vorhanden ist. Die Frischlinge sind führungslos, wenn die Bache kurz zuvor erlegt wurde."
Dass die "Leitbache die Schlüsselfigur schlechthin" sei, muss aber auch vor der These ihrer Wirkung als "Zuwachsbremse" revidiert werden. Ihre An- oder Abwesenheit hat nach derzeitigem Wissensstand keinen Einfluss auf den Gesamtzuwachs einer Rotte. Pauschale Hinweise auf den "Erhalt der Sozialstruktur" sind daher unzureichend.

Kritischer Blick auf bisherige Lehrmeinungen: Zuwachsbremse Bache?

Hohmann (2005, 2009, 2010) hat sich intensiver mit der Frage der Rolle der sog. "Leitbache" für die Reproduktion beschäftigt und dazu die vorhandene Literatur kritisch hinterfragt sowie Experteninterviews unter Schwarzwildforschern in Europa durchgeführt. Eines der interessanten Ergebnisse seiner Recherchen und Analysen war, dass der Begriff "Leitbache" nur im deutschsprachigen Raum benutzt wird und in anderen europäischen Ländern ebenso unbekannt ist wie die Rolle, die man bei uns der führenden Bache einer Rotte oder eines größeren Rottenverbandes zuschreibt. Bedenklich ist auch, dass die "Leitbachenschonung als bedeutendes jagdethisches Paradigma" in 6 von 13 Flächenländern in Deutschland in die Bewirtschaftungsrichtlinien integriert ist (Hohmann, 2010).

r-Strategen

Die These der "sozialen Reproduktionsunterdrückung durch Leitbachen" konnte in Hohmanns Recherchen nicht erhärtet werden. Diese Fähigkeit einer Bache würde der Lebensstrategie des Schwarzwildes zuwider laufen. Die Populationsökologen betrachten Wildschweine nämlich als sog. "r-Strategen". Das sind Tierarten, die in der Lage sind, Ressourcenschwankungen (z.B. die Nahrungsverfügbarkeit der jährlich in unterschiedlicher Intensität zur Verfügung stehenden Baummast) optimal für sich auszunutzen und kurzfristig viele Nachkommen zu erzeugen. Die Rolle der "Leitbache als Zuwachsbremse" ist allein aufgrund populationsökologischer Überlegungen fraglich.

Häufig werden in oberflächlichen Diskussionen aber zwei weitere Aspekte genannt (und oft miteinander vermischt), wie die Leitbachen die Reproduktion beeinflussen:
1. Leitbachen synchronisieren den Brunstzeitpunkt in der Population (Brunstsynchronisation)
2. Leitbachen hindern rangniedrige Bachen, vor allem Frischlingsbachen, daran, an der Reproduktion teilzunehmen (Brunstunterdrückung)

Beides trifft aber nicht zu. Eine Synchronisation der Brunst erfolgt allenfalls innerhalb der jeweiligen Rotte, aber nicht zwischen den Rotten. Hier macht die Synchronisation der Brunst und somit des gemeinsamen Geburtszeitraumes auch Sinn (u.a. Minderung des Mortalitätsrisikos durch Fressfeinde, Bestimmung des Tagesablaufs in der Rotte). Dennoch kann es beim Schwarzwild aus unterschiedlichen Gründen zu einer Nachbrunst kommen. Dafür können verantwortlich sein, dass während der Brunst der weiblichen Tiere der Keiler zur Befruchtung gefehlt hat, dass Eizellenverluste vor oder mit der Einnistung in die Gebärmutter stattfanden oder dass Föten abgestorben sind. Auch die Frühreife von Frischlingsbachen, die außerhalb der "üblichen" Brunstperiode (Oktober-Februar) geschlechtsreif werden, kann zu unterschiedlichen Geburtsterminen im Jahresverlauf führen.

Schaut man genauer hin, wie eine Brunstunterdrückung der rangniederen Bachen durch eine Leitbache erfolgen könnte, so gäbe es biologisch zwei theoretische Möglichkeiten:
1. Dominante, führende Bachen hindern brunstige Frischlingsbachen (und Überläuferbachen?) aktiv daran, dass sie von einem Keiler befruchtet werden.
2. Die Brunst der dominanten Bache selbst verhindert das Brunstigwerden der rangniedrigeren, geschlechtsreifen Frischlingsbachen (und Überläuferbachen)

Werden diese Theorien genauer beleuchtet, erscheinen beide im Ergebnis sehr unwahrscheinlich. Dies folgt im Hinblick auf Theorie 1 aus Beobachtungen die zeigen, dass Frischlingsbachen sogar von männlichen Geschwisterfrischlingen in einer bachengeführten Rotte befruchtet werden können (Meynhardt, 1978). Ein aktives Verhindern des Beschlages rangniederer Bachen durch ranghöhere Bachen ist nicht bekannt.
Zu Theorie 2 gibt es keine wissenschaftlichen Belege, obwohl dieses ethologische und populationsökologische Phänomen unter bestimmten ökologischen Rahmenbedingungen bei anderen Tierarten bekannt ist. Allerdings legen verschiedene Untersuchungen zur Reproduktionsbiologie des Schwarzwildes nahe, dass die Geschlechtsreife und das Brunstigwerden maßgeblich von der körperlichen Verfassung des jeweiligen Tieres aufgrund der Ernährungssituation abhängen. Auch evolutionsbiologisch läge es nicht im Interesse der dominanten Bache, die Brunst rangniederer Bachen zu verhindern, denn dadurch würden weniger der eigenen Gene an mögliche Töchter oder Enkel weitergegeben.
Dies widerspräche auch der oben beschriebenen r-Strategie, die das Wildschwein als eine auf fluktuierende Nahrungsressourcen mit Zuwachsmaximierung reagierende Tierart beschreibt.

In der Quintessenz bedeutet dies, dass die der "Leitbache" zugesprochene Zuwachsdrosselung innerhalb der Rotte nach bisherigem Wissenstand in ihrer Pauschalität unplausibel ist. Durch die Schonung älterer Bachen bleibt die Schwarzwildpopulation produktiv. Der Zuwachs wird auf einem hohen Niveau gehalten.

Bachenabschuss in der Praxis weiterhin optimierungsfähig

Die Diskrepanz zwischen Jagdpraxis und wildbiologisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen ist nach wie vor sehr groß. Die Erlegung reproduktionsfähiger Bachen erfolgt derzeit vielerorts unzureichend für die Regulierung der Schwarzwildbestände. Dies spiegelt auch der Vergleich von Streckendaten und Bejagungsempfehlungen in Bayern wider.
Laut Metzger & Holland-Moritz (2002) lag der durchschnittliche Anteil der erwachsenen Bachen in der bayerischen Gesamtstrecke des Schwarzwildes zwischen 1987 und 2002 lediglich bei 6 %.
Mit der Bekanntmachung vom 23. März 2004 empfiehlt die "Schalenwildrichtlinie", die als ein vor über 10 Jahren ausgehandelter Kompromiss zwischen BBV, BJV und WBV zu verstehen ist:
"In der Zeit von Oktober bis Januar forcierte Bejagung von Bachen unter Erhöhung des Bachenanteils auf mindestens 10 % (besser sogar 20 %) der Gesamtstrecke möglichst unter Schonung der Leitbachen."

Seither sind allerdings die prozentualen Anteile erlegter erwachsener Bachen in der Gesamtstrecke nicht auf den empfohlenen Wert gestiegen. Bei der Schwarzwildreduktion müssen daher neue Wege beschritten werden.

Damit soll nicht einer regellosen Bejagung dominanter Bachen das Wort geredet werden. Schließlich gilt es jagdrechtliche Regelungen zu beachten (Jagd- und Schonzeiten, Abschuss laktierender Bachen ist verboten).
Eine Steigerung des Bachenabschusses über die in der Jagdstatistik (Jagdstrecke + Fallwild) gemeldeten Anteile hinaus kann nur dann tatsächlich gelingen, wenn auch neue Ansätze bei der Bachenbejagung verfolgt werden.
Im Nachbarbundesland Baden-Württemberg ist in den 10-Punkte-Empfehlungen zur Schwarzwildbejagung zu lesen (MLR, 2010): "Ein hoher Zuwachs kann nur mit starken Eingriffen bei den weiblichen Tieren über alle Altersklassen wirksam vermieden werden. Der Bachenabschuss ist daher (unter Berücksichtigung des Elterntierschutzes) kein Tabu."

Abschuss einer Altbache verhindert wesentlich mehr Nachkommen

Der Oberösterreichische Jagdverband, die Landwirtschaftskammer Oberösterreich und das Land Oberösterreich haben es erst kürzlich mit Ihren "Strategien zur Schadensminderung" vorgemacht (OÖ, 2013). Dort heißt es u.a.: "Beim lernfähigen Schwarzwild kommt der Entnahme scheuer „Erfahrungsträgerinnen" (mehrjährige Bachen) besondere Bedeutung zu, denn sie entziehen sich besonders erfolgreich der Bejagung und schützen damit auch ihre Nachkommen."
Für die bayerische Jagdpraxis bedeutet dies unter den derzeit gegebenen Bedingungen:
Die vorrangig propagierte Forcierung der Frischlings- und Überläuferabschüsse hat bislang den weiteren langfristigen Bestandsanstieg nicht verhindert. Die Produktionsrate an Nachkommen ist bei einer älteren Bache um ein Vielfaches höher als bei einer Frischlingsbache. Die Erlegung einer Altbache verhindert bezogen auf deren "lifetime-productivity" daher wesentlich mehr Nachkommen als die Erlegung einer Frischlingsbache (die in der Jagdpraxis zudem noch als solche erkannt werden müsste).

Bachenabschuss nicht vernachlässigen

Hat der Jäger die Wahl, eine erwachsene Bache zu erlegen, ist der Elterntierschutz zu berücksichtigen. Für die Anwendung des § 22 Abs. 4 Bundesjagdgesetz (Schutz der Elterntiere) kann davon ausgegangen werden, dass die Bachen für die Aufzucht der Frischlinge ab einem Alter von drei bis vier Monaten (äußerlich erkennbar am Verlust der Frischlingsstreifen) nicht mehr notwendig sind.
Hinsichtlich der angestrebten Bestandsreduktion ist dieses Vorgehen durchaus sinnvoll. Die anzustrebende Forcierung des Frischlingsabschusses geht nur dann mit dem Ziel einer Bestandsabsenkung konform, wenn gleichzeitig der Abschuss von Bachen nicht vernachlässigt wird. Daher sind für eine effektive Bejagung des Schwarzwildes Restriktionen des Bachenabschusses ausschließlich auf den Muttertierschutz (laktierende Bachen) zu beschränken.